Reaktionskinetik: Experimente, Netzwerkanalyse und Modellierung
Forschende: Marion Börnhorst, Maximilian Gstettenbauer, Hendrik Held, David Kellermann, Elodia Morales, Mira Zallmann
Für die rigorose, modellbasierte Prozessoptimierung ist eine genaue Kenntnis des Reaktionssystems, welches üblicherweise aus einem Netzwerk aus mehreren Teilreaktionen besteht, erforderlich. Mit der gewonnenen Erkenntnis können Prozesse im Hinblick auf Effizienz, Sicherheit, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit neu ausgelegt bzw. weiterentwickelt werden. Im Zuge dessen ist die Auslegung und Optimierung des chemischen Reaktors als Kernelement des Prozesses von besonderem Interesse. Diese Auslegung basiert im Allgemeinen auf Bilanzgleichungen, welche thermodynamische Ansätze und kinetische Modelle für Reaktion und Stoff- und Wärmetransport enthalten. Ein reaktionskinetisches Modell bezeichnet dabei die mathematische Beschreibung des Reaktionsverlaufes jeder im Reaktionssystem ablaufenden Teilreaktion in Abhängigkeit der jeweils beteiligten Komponenten.
Die Entwicklung eines reaktionskinetischen Modells erfordert zunächst Messungen in einem Laborreaktor unter wohldefinierten Bedingungen. Die Messungen werden mittels statistischer Versuchsplanung („Design of Experiments“, DoE) organisiert, sodass sie in möglichst geringer Anzahl und der Sensitivität des Systems entsprechend durchgeführt werden können. Auf Grundlage der erhaltenen Messwerte werden im Schritt der kinetischen Modellierung mathematische Ansätze gewählt, welche auf mechanistischen Annahmen (unterschiedlicher Detailtiefe) beruhen und zu den Messwerten qualitativ ähnliche Verläufe aufzeigen. Diese Ansätze enthalten zum einen Zustandsgrößen wie Konzentration oder Temperatur, zum anderen anzupassende Modellparameter wie Aktivierungsenergie oder Stoßfaktor, durch deren Variation das Ergebnis der mathematischen Beschreibung an die Messwerte angenähert werden kann. Durch eine statistische Bewertung der Anpassungsergebnisse (Konfidenzintervalle, Korrelationskoeffizienten, Residuen) kann der Ansatz, welcher für jede Teilreaktion eines Reaktionsnetzwerks ausreichend genaue und statistisch zuverlässige Werte liefert, identifiziert werden. Das Ergebnis der kinetischen Modellierung ist dementsprechend ein vollparametriertes mathematisches Modell, das jede ablaufende Teilreaktion des Reaktionssystems beschreibt.
Am Lehrstuhl werden sowohl reaktionskinetische Messungen als auch die zugehörige Reaktionsnetzwerkanalyse sowie die reaktionskinetische Modellierung durchgeführt. Es stehen hierfür mehrere dedizierte Laborreaktoren zur Verfügung, bei denen verschiedenste Parameter eingestellt und geregelt werden und die diskontinuierlich und/oder kontinuierlich betrieben werden können. Der Lehrstuhl verfügt über umfangreiche Expertise zur Entwicklung und dem Aufbau neuer bzw. der Anpassung bestehender maßgeschneiderter Versuchsanlagen. Das Setup der Laboranlagen besteht dabei aus einem Abschnitt zur Dosierung der Edukte, dem Laborreaktor sowie einer hochauflösenden Analytik und kann auf die jeweiligen Anforderungen der Reaktion angepasst werden, um möglichst aussagekräftige Messdaten generieren zu können. Hierbei kommen insbesondere gradientenfreie Kreislaufreaktoren, sogenannte Berty-Reaktoren, zum Einsatz. Ergänzend können auch Untersuchungen in Rohrreaktoren bis hin zum Metermaßstab durchgeführt werden, um die in großtechnischen Reaktoren zu erwartenden Effekte wie z. B. eine nichtideale Strömungsverteilung bzw. Vermischung zu analysieren. Die individuellen Setups sind dabei entweder für einphasige oder für mehrphasige Reaktionssysteme ausgelegt. Für die reaktionskinetische Modellierung stehen diverse State-of-the-Art Software Tools und Solver zur Verfügung.
Durch unsere umfangreichen Forschungsarbeiten im Bereich der reaktionskinetischen Modellierung haben wir verschiedenste Ansätze und Methoden entwickelt, mit denen auch komplexe Fragestellungen bei der Behandlung von sehr großen Reaktionsnetzwerken beantwortet werden können. Die Komplexität in den reaktionstechnischen Untersuchungen kann verschiedene Ursachen haben, und entsprechend müssen jeweils auf die Problemstellung zugeschnittene Ansätze eingesetzt werden. In dieser Hinsicht wurde an unserem Lehrstuhl in den vergangenen Jahren umfangreiche Kompetenz und Expertise aufgebaut.
Eine häufig auftretende Herausforderung ist, dass das zu untersuchende Reaktionsnetzwerk aus sehr vielen Reaktionen, einhergehend mit einer sehr großen Anzahl an chemischen Spezies, besteht. In diesem Fall muss eine Reduktion des Netzwerks auf die Reaktionen erfolgen, die wirklich zur Systembeschreibung im relevanten Betriebsbereich notwendig sind. Dies kann durch zielgerichtete Experimente in Verbindung mit einer ausgeklügelten Auswertestrategie erreicht werden, wie in unserer Arbeitsgruppe z. B. für das Reaktionsnetzwerk der Olefin-Umwandlungsreaktionen an einem H-ZSM 5 Katalysator gezeigt wurde.
Eine andere Herausforderung besteht in der Wahl der angemessenen Modelltiefe. In diesem Zusammenhang beschäftigen wir uns im Rahmen eines Teilprojekts in dem von der DFG geförderten Schwerpunktprogramm 2080 „Katalysatoren und Reaktoren unter dynamischen Betriebsbedingungen für die Energiespeicherung und -wandlung“ mit der Entwicklung einer neuen Klasse von reaktionskinetischen Ansätzen. Hierbei soll auf die bei formalkinetischen Ansätzen übliche Annahme eines geschwindigkeitsbestimmenden Teilschritts – und damit verbunden des Gleichgewichtes aller anderen Teilreaktionen – verzichtet werden. Dies ist im untersuchten Reaktionssystem der dynamischen Methanisierung im Kontext der chemischen Energiespeicherung von Interesse, da im dynamischen Betrieb die Sorptionsprozesse nicht notwendigerweise im Gleichgewicht sind und neben der Gasphasendynamik eine Dynamik der Katalysatoroberflächenbelegung existiert. Auf eine extrem detaillierte mikrokinetische Beschreibung soll hierbei allerdings bewusst verzichtet werden, da das zu erstellende kinetische Modell anschließend im Rahmen einer modellbasierten Optimierung eingesetzt werden soll und es daher numerisch handhabbar bleiben muss.
Im Bereich der industriellen Anwendung bei großtechnischen Synthesen ist es häufig der Fall, dass keine Messdaten aus Laborreaktoren unter wohldefinierten, isothermen Bedingungen zur Verfügung stehen bzw. aus Zeit- und Kostengründen auf derartige Untersuchungen verzichtet wird. Soll eine Bestimmung der Reaktionskinetik direkt aus integralen Versuchsdaten mit dem technischen Katalysator in einem polytropen Festbettreaktor im Metermaßstab erfolgen, so muss eine durchdachte Strategie sowohl für die Versuche als auch für die Vorgehensweise bei der Auswertung angewandt werden. Am Beispiel der Partialoxidation von Propen zu Acrolein haben wir in unserer Arbeitsgruppe erfolgreich demonstriert, wie eine reaktionskinetische Modellierung und Parameterschätzung auf Basis derartiger Messdaten unter nichtisothermen Bedingungen durchgeführt werden kann. Die Grundidee bei der entwickelten methodischen Vorgehensweise ist dabei die Ausnutzung der Sensitivitäten der Messdaten in den verschiedenen Zonen des Reaktors.
Vertiefende Literatur
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